2000
2019 (Inhalt unverändert)
Dass ich zu Ihnen sprechen darf, ist zwei besonders glücklichen
Umständen zu verdanken: Sie haben vor einigen Tagen und ich
vor einem halben Jahrhundert die Abiturprüfung am Johanneum
zu Lübeck bestanden. - Viele meiner Mitschüler, soweit sie
noch leben, sind auch in diesem Saal.
Wir gratulieren Ihnen herzlich zur bestandenen Prüfung. Viele Prüfungen werden folgen, aber diese hier war die erste und wichtigste Hürde, die Sie genommen haben. Und das können Sie mit Recht feiern.
Ihre und unsere Schulzeit unterschieden sich gewaltig. Vielleicht gelingt mir ein kleines Stimmungsbild von jenen Tagen.
Da ist der Krieg, an den wir uns erinnern. Die alten Lübecker unter uns sahen ihre Stadt in Schutt und Asche versinken und diejenigen, die nach dem Krieg als Flüchtlinge dazu stießen, hatten im Osten manches Leid gesehen oder erlebt.
Wir waren jung genug, um nicht noch mit einer Waffe in der Hand → kämpfen zu müssen.
Wir waren alt genug, um von den Judenpogromen über die Hitlerjugend bis hin zum Einmarsch der Engländer in Lübeck die damalige Zeit bewusst zu erleben. Verstanden haben wir sie allerdings erst viel später.
Und wir haben von dieser Zeit her ein sicheres Gespür für jegliche Art von Ideologien, die es immer gibt, nicht nur damals.
Die Lübecker, die schon im Krieg hier zur Schule gingen, erzählen immer wieder von der "Kinderlandverschickung". Wegen der Bombenangriffe hier waren sie mit einigen Lehrern in Österreich und erhielten dort recht und schlecht Unterricht. "Österreich", das ist ein Wort mit Urlaubsstimmung. Aber für die 13-Jährigen war es nicht so leicht, monatelang von den Eltern getrennt zu leben, bei schlechter Verpflegung und einfachem Quartier. "Lunzer Lungenhaschee" war die Spezialität des Hauses. Und trotzdem erinnern sie sich gerne an diese Zeit.
Nach Kriegsende war das Johanneum Gast im eigenen Haus. Unten herrschten die Ämter, wie Bezugscheinstellen und Meldebehörden. Wir hatten wegen des Raummangels Schichtunterricht. Es fehlten Schulbücher. Kopiergeräte kannte man damals noch gar nicht. Als 1947 Dümmlers "Physik für höhere Lehranstalten" wieder erschien, fehlten einige Seiten der Strömungslehre, denn es hätte ja sonst die Gefahr bestanden, dass wir eines Tages Flugzeuge bauen würden.
Ich werde nie vergessen, wie → zerlumpt unsere Lehrer und wir im ersten Nachkriegswinter zur Schule kamen.
Von den äußeren Umständen her und verglichen mit hier und heute war das sicher eine schlimme Zeit. Wir haben sie aber in guter Erinnerung. Wir konnten damals noch zelten, wo wir wollten. Die Zelte kamen aus englischen Militärbeständen. Wir konnten mit alten klapprigen Fahrrädern bis an die Westküste fahren, ohne in Abgaswolken zu ersticken. Und wir hatten sicher mehr Zeit als Sie sie heute haben.
Nur in einer Hinsicht war das Leben am Johanneum wirklich öde: es gab keine Mädchen. Und so kam es, dass einige von uns eine Zeitungsanzeige aufgaben:
"Sieben junge Musensöhne suchen sieben junge Musentöchter",
was in Lübeck ein mittleres Erdbeben auslöste und zu ernsthaften Konflikten in der Schule führte.
→ Dreizehn waren wir nur noch im sprachlichen Zweig der Oberprima. Und deshalb steckte man uns in eine Abstellkammer, den heutigen Raum 306, die breiter als tief war. In der Ecke stand ein Klavier, auf dem Ulli Frase hottete.
Alles Äußerlichkeiten? Ja! Aber es wäre nicht sehr anschaulich, würde ich über Faust in der Jugendherberge mit Bernd Schmeier reden, über die ...[auf Wunsch von Angehörigen entfernt].., über die Messung der Lichtwellenlänge bei Plehn oder über seine sphärische Trigonometrie.
Wir haben gewusst, dass es ein Privileg war, zur Schule zu gehen.
Und deshalb sind wir dankbar für die Zeit am Johanneum und im
Johanneum. Und so abstrakt ist dieser Dank gar nicht, denn wir
verbinden ihn natürlich mit unseren Lehrern:
Juhl, Hagen, Capell, Pardey, Harms, Praechter, Muschi Jensen,
Pickert, Wiemer, Schurig und Schurig, Freitag, Plehn und
[auf Wunsch von Angehörigen entfernt],
Birn, Kempf, Fieberg - Namen, wie sie mir gerade einfallen.
Manegold, der mit uns nach Hamburg fuhr, uns nach einigen Besichtigungen mit der Weisung entließ, um Mitternacht zum letzten Zug auf dem Hauptbahnhof zu sein.
Ein besonderer Fall war unser Klassenlehrer: Dr. Bernd Schmeier, er lehrte uns Englisch und gab uns ein wenig ab von seiner Kultur. Wenn ich diesen Mann beschreiben soll, fällt mir von seinem Auftreten nur vorwiegend Negatives ein:
Arrogant, verletzend, noch mehr verletzbar, jedem mit seiner Bildung haushoch überlegen, unnahbar. Er verhöhnte uns als "Leberecht Hühnchen", als Kleinbürger aus der vorigen Jahrhundertwende.
Aber er war "old owl", die alte Eule, mit einem selbstverständlich hervorragenden Unterricht und einem Freund, der André Gide hieß. Und in irgendeiner Weise hat er jeden von uns geprägt.
Alle diese durch die zeitliche Distanz immer schöneren Erinnerungen können mich nicht davon abhalten, Ihnen über Sorgen zu berichten, die meine Kollegen von den technisch-naturwissenschaftlichen Fakultäten und mich heute umtreiben:
Seit vielen Jahren stehen Hörsäle der Technischen Universitäten und der Fachhochschulen leer, Kurse müssen mangels Teilnehmerzahlen zusammengelegt werden. Und heute schon fehlen die Fachleute an allen Ecken und Enden.
Nur scheinbar ist man jetzt aufgewacht und versucht, in hektischer Betriebsamkeit den akuten Notstand in einem kleinen Bereich, der Informatik, zu lindern.
Wer ist schuld daran? Natürlich die Politiker, natürlich die Industrie, natürlich die Schulen ... Ich meine aber, dass die ganze Gesellschaft, wir alle, es zu verantworten haben. dass viele junge Menschen Physik und Chemie und technische Wissenschaften als etwas Schädliches und Bedrohendes empfinden und sich von ihnen fernhalten. 5000 Biologen verlassen jährlich unsere Universitäten. Biologie, das ist "gut". Nur 200 Biochemiker werden in jedem Jahr fertig, denn Biochemie bis hin zur Gentechnik, das ist "böse". Und der aus dieser Ablehnung auch folgende Mangel an Physik-, Mathematik- oder Chemielehrern verstärkt nur den Effekt.
Kein Mensch wird verlangen, dass Sie plötzlich alle Maschinenbau, Elektrotechnik, Informatik, Mathematik oder Physik studieren. Ich wünsche mir aber, dass Ihre Generation technischen Fragen wenigstens offener gegenübersteht als es heute "in" ist.
Beobachten Sie einmal, mit was für ausgefeilten und raffinierten Methoden Häuser gebaut werden. Denken Sie darüber nach, wie groß der technische Aufwand ist, ein Auto leichter zu bauen, aber trotzdem noch sicherer als es der Vorgänger war. Und wenn Sie die Gasheizung anmachen, dann denken Sie an die gewaltige Leistung, die nötig war, um das Gas über großdimensionierte Rohrleitungen von Sibirien bis in Ihre Wohnung zu bringen. Verfolgen Sie die Fortschritte in der Medizintechnik.
Sie sollten spüren, wie aufregend interessant, wie faszinierend und herausfordernd Technik sein kann.
Dies alles kann man allerdings auch schlechtreden.
Kerntechnik ist abgehakt. Nun liegt es an Ihrer Generation, neue umweltfreundliche Methoden der Energieumwandlung zu finden. Mit Sonne, Wind und Biogas alleine können Sie Deutschland nicht versorgen.
Als Optimist will ich mich freuen, dass fast 2o% von Ihnen ein technisches oder naturwissenschaftliches Fach anstreben, denn in den Vorjahren waren es noch weniger.
Wenn ich mich nun an Sie wende, meine Damen und Herren vom Lehrerkollegium, dann bin ich in der angenehmen Situation, nicht zu wissen, wie Sie heute unterrichten. Daher kann ich niemandem weh tun, und ich hoffe, dass ich offene Türen einrenne: Ich wünsche mir die Einbeziehung von Technik und Naturwissenschaft in Ihren Unterricht. Lassen Sie mich fantasieren:
"ignis quis audere" = "Feuerwerwagen"
Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten,
wenn Sie in fünfzig Jahren - das ist ein langer, heute kaum vorstellbarer Zeitraum - Ihr goldenes Abitur feiern, dann werden Sie eine Fülle an Erfahrungen und Erleben gesammelt haben. Aber Ihre Schulzeit und alles, was danach kam, wird für Sie sein, als sei es erst vorgestern gewesen.
Wir wünschen Ihnen Frieden im Land, Erfolg im Beruf, Glück im Privaten und lange gute Gesundheit.
Hier kommt man zum → Johanneum in Lübeck